»Igne Natura Renovatur Integra« Giacinto Scelsi als Bearbeiter eigener Werke View larger

»Igne Natura Renovatur Integra« Giacinto Scelsi als Bearbeiter eigener Werke

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Author Friedrich Jaecker
Editor Mario Baroni e Alessandra Carlotta Pellegrini
Series Quaderni dell’Archivio Scelsi
Nr. 1
Size 17×24, pp.159
Year 2013
ISBN 9788870967517

Price 7,00 €

Giacinto Scelsi hat oft betont, dass er kein Komponist sei. Bekanntlich bespielte er Tonbänder, die er dann in Partituren übertragen ließ. Diese ‚Transkription‘ sah er als Handwerk und nicht als Kunst an. Vieri Tosatti, der die meisten Partituren geschrieben hat, behauptete dagegen, Scelsis Vorgaben seien ‚minimal‘ gewesen und er, Tosatti, habe ‚fast alles alleine tun‘ müssen. Dieser Widerspruch ist bisher nicht zureichend geklärt worden. Handelt es sich bei Scelsis Werken um Transkriptionen im Sinne einer bloßen Verschriftlichung von Tondokumenten, oder lassen sich Merkmale kompositorischer Prozesse feststellen? Und wenn ja, welchem Autor sind diese zuzuordnen?

Aufschluss kann der Vergleich der Tonbänder mit den entsprechenden Partituren geben. Ein anderer Weg ist der Vergleich verschiedener Übertragungen desselben Tonbands. Mehrere Werke Scelsis gibt es nämlich in zwei Versionen mit unterschiedlicher Besetzung. Durch die vergleichende Analyse dieser Schwesterwerke stellt sich die Frage nach den Tonbandaufnahmen noch einmal unter einer anderen Perspektive.

Aus verschiedenen Schaffensperioden Scelsis werden folgende Werkpaare untersucht:

  • Quattro pezzi für Trompete (1956), 4. Satz und  für Mezzosopran, 1. Satz (1960);
  • Manto für Viola (1957), 1. Satz und Manto per quattro für Sopran, Flöte, Posaune und Violoncello (1974);
  • Quartetto Nr. 4 (1964) und Natura Renovatur (1967) für 11 Streicher;
  • Ko-Tha für Gitarre (1967), 2. Satz und TKRDG für 6 Männerstimmen, verstärkte Gitarre und 3 Schlagzeuger (1968), 2. Satz;
  • Sauh I, II für zwei Frauenstimmen (1973) und Sauh III, IV für vier Frauenstimmen (1973);
  • Aitsi für verstärktes Klavier (1974) und Quartetto Nr. 5 (1984).

Die Vergleiche zeigen in der jeweils späteren Fassung nicht nur eine Anpassung an andere instrumentale Bedingungen. Neben einer Verfeinerung des Klangbildes findet man in den Veränderungen von Melodik, Harmonik, Form und Klangfarbe die Ergebnisse von Kompositionsprozessen.

Wie aber soll man sich den Umfang und die Art von Scelsis Mitarbeit vorstellen? Die Auswertung der Tonbänder und anderer Archivalien zeigt, dass Scelsi die zu transkribierenden Tonbandaufnahmen ausgewählt, gegebenenfalls gekürzt oder verschiedene Aufnahmen zusammengefügt hat. Er hatte Ideen zur Instrumentierung und wirkte an der Korrektur der Partituren mit. Die Laute der Vokalwerke hat er eigenhändig in die Partituren eingetragen. Er hat die Stücke zu Gruppen zusammengestellt und betitelt.

Die Bearbeitung improvisierter Aufnahmen ist ein auf nachträglicher Reflexion beruhender Akt. Je komplexer die so entstandenen Texturen sind, umso mehr nehmen sie die Eigenschaft von Kompositionen an. Je vielschichtiger aber die Tonbandklänge sind, umso wichtiger wird auch die Aufgabe desjenigen, der auf ihrer Grundlage eine Partitur erstellt. Die Begriffe ‚Improvisation‘ und ‚Transkription‘ erweisen sich dann als unangemessen, und jeder Versuch, die Bedeutung des ‚Transkriptors‘ oder ‚Improvisators‘ zu marginalisieren, wird den analytischen Befunden nicht gerecht.